Berg-Ge(he)n

Durchquerung der Wendelsteingruppe

Der Gipfel der Hochsalwand ist schon zum Greifen nah

Es gibt Tage, die laufen so ganz anders ab, als geplant. So wie heute, denn statt bei der geplanten Besteigung der Zugspitze finde ich mich morgens auf den Vorgipfeln des Wendelsteins wieder. Aber, so viel sei hier schon verraten, es wird dennoch ein wunderbarer Bergtag werden!

Spontanität ist gefragt

4:10

Als der Wecker um 4:10 klingelt, ist die Welt in bester Ordnung. Zumindest abgesehen von der Uhrzeit: es ist ausgezeichnetes Bergwetter angekündigt, ich habe einen Tag freigenommen und mit der Besteigung der Zugspitze über den Stopselzieher steht eine attraktive Tour auf dem Programm. Bald fährt die U-Bahn zum Harras, wo mich Sina einsammelt, damit wir dann mit ihrem Auto nach Ehrwald fahren können. Die Tagesplanung ist unkompliziert und schnell beschrieben: früher Start und mit genügend zeitlichen Reserven hinauf zur Zugspitze, die Aussicht genießen und gemütlich mit der Seilbahn runter zum Auto. Die knapp 2.000 Höhenmeter werden kein Problem sein, ich fühle mich gut in Form!

4:11

Ich schwinge einigermaßen wach mit den Beinen aus dem Bett und schaue aus purer Routine auf’s Handy. Ich bin etwas erstaunt, eine Nachricht von 3:58 vorzufinden. Und diese liest sich leider gar nicht gut: Sina hat sich einen Mageninfekt zugezogen und wird heute definitiv keine Bergtour unternehmen. So wach war ich um diese Uhrzeit selten, denn jetzt brauche ich dringend einen neuen Plan!

4:15

Und der ist gar nicht so einfach zu finden: ich selbst habe kein Auto, die Werdenfelsbahn fährt wegen des Eisenbahnunglücks bei Garmisch-Partenkirchen immer noch nur bis Murnau und der SEV bietet nur mäßig gute Verbindungen, die nur wenig Spaß versprechen. Ein früher Start in Ehrwald ist fast ausgeschlossen. Weitere attraktive Ersatzziele sind derzeit Mangelware, denn auch die Bahnstrecken nach Murnau und Kochel sind gesperrt und der Bergsteigerbus in die Eng bietet nur an den Wochenenden die für meine Zwecke notwendigen zahlreichen, attraktiven Verbindungen.

4:30 – der Wendelstein wird’s!

Ein wenig ratlos blättere durch meine Bergbuchsammlung – und komme damit nach wenigen Minuten auf die rettende Idee: die Überschreitung der Wendelsteingruppe von Kaserwand bis Breitenstein ist genau das richtige für meinen heutigen Urlaubstag. Zumindest bis mir einfällt, dass ich alle dabei zu besuchenden Gipfel schon ziemlich oft bestiegen habe. Allerdings fehlen mir noch die nördlich vorgelagerten Gipfel des Wendelsteins, die ich mangels attraktiver ÖPNV-Verbindungen bisher ausgelassen habe. Aber vielleicht fahren an Werktagen passende Busse? Das wäre doch was – und ich habe Glück, denn es gibt sogar eine überraschend schnelle morgendliche Verbindung!

Monotone Fahrwege zur Farrenpoint

Die Brotzeit ist schnell gerichtet, der für die Zugspitze vorbereitete Rucksack noch schneller um die Klettersteigausrüstung erleichtert. Zum Aufbruch ist es aber noch zu früh – und so darf ich noch einmal für einige Minuten die Augen schließen. Gegen halb sieben trudele ich am Ostbahnhof ein und darf noch ein paar Minuten auf den Zug in Richtung Kufstein warten. Die Fahrt selbst dauert gar nicht so lange, bis ich in Raubling Ausschau nach der Bushaltestelle halte. Diese liegt glücklicherweise unmittelbar am Bahnhof und ich genieße die verbleibende Wartezeit in der Morgensonne. Der Bus in Richtung Bad Feilnbach ist ziemlich leer und auf der Fahrt nach Derndorf dauert es nicht lange, bis ich die Straßen wiedererkenne: vor einigen Jahren bin ich hier mit dem Fahrrad auf einer Fahrt von Brannenburg bis München entlanggekommen. Ganz neu für mich sind hingegen die Wege in den folgenden Stunden. Los geht’s ziemlich genau inmitten von Derndorf, das ich rasch in Richtung Süden verlasse. Der eine oder andere Blick zurück und über die morgendliche Filzlandschaft lohnt sich!

Mystische Morgenstimmung oberhalb von Derndorf
Mystische Morgenstimmung oberhalb von Derndorf

Ist das Gelände zunächst noch recht offen, tauche ich wenige Minuten später endgültig tief in bewirtschaftete Wälder ein. Ein Gewirr aus großen und kleinen Forstwegen sorgt für beständige Blicke auf die virtuelle Karte, denn eine nennenswerte Beschilderung existiert hier nicht. Allzu viele Touristen scheinen sich auch nicht nach Derndorf zu verirren – und ich frage mich, wozu auch? Der Wald ist dicht, es gibt kaum Abwechslung in der Pflanzenwelt und die Wege bewegen sich am Rande der absoluten Monotonie. Dennoch gibt es angenehme Pluspunkte: die Steigung ist gleichmäßig, ich kann meinen Gedanken nachhängen und ganz nebenbei mich für die lange Tour vorbildlich warmlaufen. Erst kurz unterhalb der Farrenpoint weiche ich auf einen Steig aus, der mich rasch zum Gipfel bringt. Endlich wird die Aussicht schöner – nicht nur zum erstmals sichtbaren Wendelstein! -, und ein freies Bankerl für die erste Gipfelbrotzeit gibt’s auch!

Ich bin nicht der erste an diesem Morgen auf der Farrenpoint
Ich bin nicht der erste an diesem Morgen auf der Farrenpoint

Ein Gipfel folgt auf den nächsten

Bevor ich mich an den kurzen Abstieg in den Sattel zum Mitterberg mache, schaue ich mir den weiteren Tourenverlauf noch einmal genauer an. Der Mitterberg ist nur ein kleinerer Hügel, der sich vor der – aus dieser Perspektive – kecken, steil erscheinenden Rampoldplatte erhebt. Schon etwas weiter nach hinten versetzt, aber deutlich höher liegt mit der Hochsalwand das wichtigste Teilziel für meine heutige Tour. Dieser langgestreckte Höhenrücken ist der höchste Gipfel im nördlichen Umfeld des Wendelsteins und bietet eine schöne Aussicht über das Voralpenland.

Puuh, das sieht noch ganz schön weit aus bis zum Wendelstein
Puuh, das sieht noch ganz schön weit aus bis zum Wendelstein

Mitterberg

Mit dem Bild der nächsten Gipfelziele vor Augen steige ich erst einmal wieder einige Höhenmeter über einen meist holprigen Weg ab. An der Einmündung einer Forststraße treffe ich einen nicht mehr ganz so jungen Herren mit kunstvoll gezwirbelten Schnurrbart. Den offensichtlichen Touristen lasse ich gleich hinter mir, biege aber zugleich auch vom üblichen Weg zur Rampoldplatte ab: dieser führt in einem weiten Bogen um den Mitterberg herum. Glücklicherweise gibt es aber auch einen kleinen Steig, der direkt über die Almfläche hinauf zum kleinen Gipfelkreuz führt. Lange bleibe ich nicht dort oben, denn die Wiesenfläche ist arg zertrampelt, wenig ansehnlich – kein besonders schöner Ort für eine Pause.

Vom Mitterberg kann ich das erste Mal zurück zur Farrenpoint sehen
Vom Mitterberg kann ich das erste Mal zurück zur Farrenpoint sehen

Im recht engen Slalom geht’s also auf der Südflanke wieder hinunter und auf dem Fahrweg weiter zur Rampoldalm. Dort sitzen trotz der frühen Uhrzeit schon einige Touristen aus nördlicheren Bundesländern. Sie lassen es sich bei bayerischen Spezialitäten – der Stimmung zu Folge vor allem den flüssigen! – offenbar sehr gut gehen. Mir wäre das tatsächlich noch viel zu früh, aber ich bin ja auch kein Tourist. Wobei, wenn man das genauer betrachtet, vielleicht empfinden die Einheimischen den Unterschied zwischen Touristen und Münchnern als geringfügiger als ich?

Wenn hier auf dem Mitterberg nur ein Bankerl stehen würde ...
Wenn hier auf dem Mitterberg nur ein Bankerl stehen würde …

Rampoldplatte

Auch die Almfläche neben der Rampoldalm ist stellenweise ziemlich erodiert – und leider recht steil. Ich mühe mich den Hang hinauf und freue mich auf eine ruhige Gipfelpause auf der schon nahen Rampoldplatte. Diese entpuppt sich als eher kleiner, aber felsiger Gipfel. Der ältere Herr mit seinem Schnurrbart ist auch schon da, bricht aber ebenso wie ein ähnlich seniores Ehepaar bald in Richtung Hochsalwand auf. Ich genieße die einsetzende Stille und die Brotzeit. Gut gestärkt beginne ich schon wieder die nächste Etappe auf meinem Weg zum Wendelstein. Bei dem heutigen Programm bleibt leider nur wenig Zeit, die einzelnen Gipfel ausgiebig zu genießen …

Die Rampoldplatte ist der erste einigermaßen felsige Gipfel der Tour
Die Rampoldplatte ist der erste einigermaßen felsige Gipfel der Tour

Letzter Gipfel vor dem Wendelstein: Hochsalwand

Nach den sonnigen Wegabschnitten zuvor tauche ich auf dem Weg zur Hochsalwand bald in den meist dichten Wald auf ihrer Nordseite ein. Rechts geht es meistens steil abwärts, aber die vielen Bäume sorgen dafür, dass ich davon meistens nicht viel mitbekomme. Deutlich präsenter ist die Nässe, die trotz der warmen und sonnigen Vortage sich hier immer noch hält. Besonders nervig wird sie aber erst in den seilversicherten und steilen Felsrinnen: ganz schön glitschig hier!

Nass, dunkel, kalt - und das im August!
Nass, dunkel, kalt – und das im August!

Wenige Minuten später erreiche ich den Westgrat der Hochsalwand und somit wieder die wohltuende Sonne. Zum höchsten Punkt ist es ein kurzweiliger Abstecher, dem ich natürlich nicht widerstehen kann. Die Aussicht von der Hochsalwand geht einerseits zum schon nahen Wendelstein. Da auf der anderen Seite, nach Norden, kein Gipfel höher ist, ist andererseits das Panorama über das Voralpenland auch nicht zu verachten.

Der Wendelstein rückt langsam in Reichweite!
Der Wendelstein rückt langsam in Reichweite!

Besonders gut gefällt mir jedoch der Tiefblick zur Trasse der Wendelsteinbahn. Langsam, aber beständig und gut hörbar ziehen sich die Züge den Hang an der Zahnstange hinauf. Abwärts geht’s natürlich auch nicht schneller, das Getöse bleibt ebenso unverändert. Es ist schon faszinierend, dass sich hier seit mehr als 100 Jahren optisch kaum etwas verändert hat. Die grundlegende Technik ist immer noch die gleiche, jedoch sind heute deutlich höhere Geschwindigkeiten möglich, als man es zur Eröffnung auch nur hätten ahnen können. Und dennoch: schnell ist die Zahnradbahn nun auch nicht gerade.

Auch bei maximaler Brennweite bleibt die Zahnradbahn klein
Auch bei maximaler Brennweite bleibt die Zahnradbahn klein

Finaler Aufstieg zum Wendelstein

Das höchste Gipfelziel des Tages nun gut vor Augen mache ich mich bald wieder auf den Weg. Der kleine Zwischenabstieg zur Reindleralm ist zwar einfach, aber doch bedauerlich. Die mal wieder verlorenen Höhenmeter werde ich umso steiler im Anstieg zum Wendelstein erneut absolvieren müssen. Bis es aber soweit ist, dauert es länger als zunächst gedacht, denn ich kehre auf ein spontanes Spezi in der Almhütte ein. Der Schnurrbartträger ist übrigens auch mal wieder da. Es stellt sich jedoch heraus, dass er kein Tourist ist, aber immerhin ein spät zugezogener Einheimischer. Ich lag mit meiner Einschätzung also irgendwo zwischen falsch und richtig.

Am Wendelstein gibt es einige Höhlen und Wetterlöcher
Am Wendelstein gibt es einige Höhlen und Wetterlöcher

Wie befürchtet fällt der Aufstieg in Richtung Zellerscharte steil und anstrengend aus. Da kommt die eine oder andere Gehpause ganz recht, in der ich den nun zahlreichen Gegenverkehr vorbei lasse. Zahlreiche, meist schlecht beschuhte Touristen wollen sich ganz offenbar die teure Rückfahrt sparen und stattdessen zu Fuß zurück ins Tal gehen. Bald kann ich vom üblichen Steig aber abbiegen: ein fast vergessener Weg führt ohne den sonst üblichen Umweg über das Wendelsteinhaus direkt hinauf zum Geologiepfad. Auf den ersten Metern gehe ich dabei direkt parallel zur Zahnradbahn und kann mein Glück kaum fassen, dass genau in diesem Moment ein talwärts fahrender Zug aus dem Tunnel kommt. Wahnsinn!

Gerade noch rechtzeitig die Kamera in die Hand bekommen!
Gerade noch rechtzeitig die Kamera in die Hand bekommen!

Unmittelbar nach dieser schönen Begegnung zieht der offenbar sehr selten begangene Steig rasch an. In knackigen Kehren gelange ich so in kürzester Zeit auf den Geologiepfad. Hier ist einiges los, denn auch dieser Weg zum höchsten Punkt des Wendelsteins ist bestens hergerichtet und ermöglicht so gut wie allen ein überaus leichtes Bergerlebnis. Wirklich gut gefallen hat es mir hier noch nie, die Betonpisten zum Gipfel sind auch heute gewöhnungsbedürftig. Wenigstens kann ich die Passage damit schnell hinter mich bringen und das völlig zugebaute Gipfelplateau ohne weitere Mühe erreichen. Geschafft!

Während meiner Gipfelpause am Wendelstein ziehen tiefe Wolken durch
Während meiner Gipfelpause am Wendelstein ziehen tiefe Wolken durch

Heikle Passagen vor dem Türkenköpfl

So schön die Tour auch bisher gewesen ist – etwas überraschend fühle ich noch ein paar verbleibende Ressourcen. Ich entscheide mich also gegen den direkten und schnellen Abstieg nach Bayrischzell. Die dorthin führenden Steige und Wege habe ich schließlich erst im März im Rahmen der Tour zur Lacherspitze begangen. Stattdessen lockt mich das Türkenköpfl, das ich im letzten Jahr zum ersten Mal überhaupt besucht habe. Viele Höhenmeter sind damit nicht mehr verbunden – und der Abstieg nach Geitau ist ja auch ganz nett.

Die Nähe zur Bergbahn ist unübersehbar ...
Die Nähe zur Bergbahn ist unübersehbar …

Zunächst gestaltet sich diese spontane, mir noch unbekannte Alternative auch als ganz nett. Ich finde den alten, nicht mehr markierten und direkten Steig auf Anhieb und fühle mich auch dabei ganz gut. Die Einschätzung ändert sich an einer ersten kleineren Felsstufe, die ich aber problemlos absteige. Weiterhin geht’s zügig abwärts, und so langsam komme ich dem alternativen, umgehenden Weg wieder näher. Gleichzeitig werden die Wände steiler und schließlich stehe ich über einer von oben nicht einsehbaren Kraxelstelle. Hier sollte jeder Tritt sitzen, das potentielle Absturzgelände verzeiht hier keine Fehler. Ich überlege noch ein wenig hin und her – und entscheide mich dann doch schweren Herzens zur Umkehr. Solche unerwarteten Passagen möchte ich dann doch lieber erst einmal im Aufstieg und mit frischen Beinen erkunden!

Die Schwierigkeit nimmt langsam zu, aber noch gibt es Steigspuren
Die Schwierigkeit nimmt langsam zu, aber noch gibt es Steigspuren

Zwar ist der folgende Rückzug zurück in Richtung Wendelstein vergleichsweise harmlos und rasch absolviert, aber mittlerweile spüre ich jeden zusätzlichen Höhenmeter direkt in der Muskulatur. Ich lasse somit das Türkenköpfl aus und wähle gleich den offiziellen, wohlbekannten Steig zu den Spitzingalmen. Ab jetzt gibt’s definitiv keine weiteren Überraschungen mehr. Wie üblich zieht sich der weitere Weg bis zum Bahnhof Geitau ordentlich, vielleicht tut dieses Auslaufen aber auch ganz gut? Wie auch immer – das Kneippbecken kurz vor dem Bahnsteig kommt jedenfalls genau recht für meine müden Beine!

An der Spitzingalm sind alle Schwierigkeiten endgültig passé!
An der Spitzingalm sind alle Schwierigkeiten endgültig passé!

Fazit

Was war das für ein genialer Bergtag! Und wenn ich ehrlich bin: am Ende der langen Tour über den Wendelstein habe ich schon fast vergessen gehabt, dass heute eigentlich die Zugspitze auf dem Programm stand. Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, auch hin und wieder einen Tag zu improvisieren und nicht alles genau durchzuplanen? Den Gedanken hatte ich jedenfalls schon einmal vor zwei Jahren nach der schönen Überschreitung des Brünstelkopfs – und so ganz losgelassen hat mich dieser Aspekt auch einige Wochen nach dieser Tour immer noch nicht!

Tourendatum: 25. August 2022

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