Berg-Ge(he)n

Steinschlag an der Lamsenspitze

Bei fast allen Bergwanderungen und Bergtouren bleiben die Gefahren der Bergwelt glücklicherweise abstrakt. Wie häufig habe ich schon routiniert zu einer Seilversicherung gegriffen, ohne dass ich auch nur ansatzweise diese benötigen würde? Wie oft habe ich den Berghelm auf- und nach der Tour wieder abgesetzt, ohne dass ich auch nur den kleinsten Felssplitter durch die Luft fliegen gesehen habe? Ist nicht oft die An- und Abreise gefährlicher als die Tour selbst?

Unerwartet rasche Rückkehr in die Eng

Die schöne Tour zum Gramaijoch brachte auf der Rückfahrt allerdings noch eine Schrecksekunde im Zug in Lenggries mit sich: ein Handy zu wenig ist an Bord. Die folgende An- und Verspannung löst sich wenige Stunden später. Das vermisste Handy ist nicht nur gefunden, sondern freundlicherweise auch im Alpengasthof Eng abgegeben worden. Damit steht auch schnell fest, wohin die Tour am Folgetag führen wird: die am Nachmittag noch lockende Lamsenspitze bietet sich nun überraschend zeitnah als nächstes Tourenziel an. Mit der vollständigen Klettersteigausrüstung im Rucksack fahre ich also erneut mit der BOB und dem Bergsteigerbus frühmorgens in die Eng. Der erste Weg führt natürlich zur Rezeption des Hotels, wo das Handy auf seine Abholung wartet. Herzlichen Dank an den ehrlichen Finder und das freundliche Personal an der Rezeption!

Ein erster morgendlicher Rückblick zum Gamsjoch

Auf vertrauten Wegen zurück zur Lamsenjochhütte

Es ist für mich sehr ungewöhnlich, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu großen Teilen gleiche Wege zu gehen. Genau wie gestern steige ich zur Binsalm auf und folge weiter dem Abstiegsweg vom Vortag: zunächst zum (Westlichen) Lamsenjoch und weiter zur Lamsenjochhütte. Heute quere ich die Nordflanke der Lamsenspitze aber mit einem ganz anderen Gefühl, denn auf dem Gipfel über dieser beeindruckenden Wand werde ich später stehen!
Einige Seilschaften sind an diesem schönen Sommertag bereits in Nordwestkante unterwegs. Die Seilkommandos sind weit zu hören und werden mich den ganzen Tag begleiten.

Der eigentliche Gipfelanstieg beginnt

An der Lamsenjochhütte ist bereits einiges los, denn zahlreiche Hüttengäste scheinen gerade erst aufgestanden zu sein. Nach einer Stärkung mit einem Spezi beginnt dann schon gleich neben der Hütte der Anstieg zur Lamsenspitze. Der Steig vermeidet zunächst die mächtige Schutthalde und führt mich rechterhand über gut gehbare Schrofen an den Fuß des felsigen Gipfelaufbaus. Vor der Querung des steilen Schuttfelds unter der Felswand ist eine frühzeitige, aber passende Gelegenheit, in noch ruhigem Gelände Klettersteigset und Helm anzulegen.

Von der Lamsenjochhütte zeigt sich die Lamsenspitze formschön

Wie das Rauschen der Blätter im Wald

Zunächst noch gute Spuren queren das steile Schuttfeld und halten auf den Wandfuß zu. Leider nötigt mich ein bis an den Fels reichendes Altschneefeld zu einem Umweg. Auf dessen Talseite führen nur dürftige Tritte über feinen Schutt. Nach dieser unangenehmen Passage erreiche ich eine Erosionsrinne mit steilen Wänden. Noch während ich überlege, über welche Variante ich wieder an Höhe gewinne, höre ich den Wind durch Herbstlauf fahren. Das kann aber nicht sein, denn Bäume gibt es in dieser alpinen Zone definitiv nicht!

Aber erst als wenige Sekunden später erst ein, zwei, dann immer mehr dumpfe Aufschläge zu hören sind, schaue ich ungläubig die Felswand hinauf: zahlreiche, nicht nur kleine Steine fliegen über die Felskanten und landen schmatzend im Schuttfeld. Ich habe aber Glück und befinde mich offenbar nur am Rand der gefährlichen Zone. Ohne nachzudenken suche ich Schutz am Rand der Erosionsrinne – und bin überaus dankbar für den schützenden Helm. Die zahlreichen „Plopps“ sind recht nah, offenbar kommen viele Steine genau in der Umgehung des Altschneefelds hinunter, wo ich noch wenige Momente zuvor gegangen bin …

Dieses Schuttfeld ist zu queren – die Steinschlaggefahr ist zu ahnen

Der Abbruch der Tour ist eine leichte Entscheidung

So schnell der Spuk begonnen hat, so rasch endet er wieder. Auch wenn mir die Zeitspanne sicherlich sehr viel länger vorkommt: der Schreck sitzt ganz tief in den Gliedern. Eine Fortsetzung der Tour kann ich mir jetzt nicht mehr vorstellen. Ich mache mich also auf den Rückweg aus der Gefahrenzone und bin erleichtert, dass alle in der Passage befindlichen Personen unverletzt geblieben sind. Erst als ich im sicheren Schrofengelände angekommen bin, kann ich mich wieder etwas entspannen. Ich brauche eine lange Pause, um den Schock auch nur ansatzweise zu verdauen.

Noch ein Schreckmoment

Als Wolken über den Kamm der Rotwandlspitze ziehen, erinnere ich mich an die Tipps von Heinz Zak aus dem Fotokurs. Ich greife zur Kamera, bin aber offenbar nicht ganz bei der Sache. Denn als wenig später sich mein Rucksack zufällig zur Seite neigt, muss ich überrascht feststellen, dass ich die Kamera entgegen aller Gewohnheit auf diesem abgelegt habe. Während alles im Rucksack an Ort und Stelle bleibt, kullert ausgerechnet meine neue, nicht gerade billige Kamera zwar langsam, aber unbarmherzig und geradezu grausam den Hang hinunter. Erst als sie nach 25 Höhenmetern endgültig liegen bleibt, steige ich hinterher und sammele Objektivdeckel, Akkufachdeckel, Akku und natürlich die Kamera selbst wieder ein. Zwar lässt sich alles wieder zusammenbauen, aber es wird noch einige Tage dauern, bis ich in der Lage sein werde, überhaupt nur ein paar Testfotos zu machen.

Wird Bild Nr. 3203 das letzte der neuen Kamera bleiben?

Fazit

Unter all den zahlreichen Tagen, die ich bisher in den Bergen verbringen durfte, ist dieser sicherlich einer der am wenigsten gelungenen. Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr habe ich sehr viel Glück gehabt, der Abbruch der Tour ist mehr als vernünftig. Der Rückweg zur Bushaltestelle in der Eng ist mit gedankenschwer und nachdenklich noch positiv umschrieben. Dennoch werde ich noch einmal wiederkommen – im nächsten Anlauf klappt die Tour zur Lamsenspitze bestimmt!

Tourendatum: 9. August 2020

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