Berg-Ge(he)n

Piz Boè

Wunderbare Aussichten vom Piz Boè

Der gewaltige Sellastock steht wie eine riesige Burg genau im Kreuzungspunkt der ladinischen Täler und strahlt dadurch eine eindrucksvolle, übermächtige Präsenz aus. Auch wenn der Sellastock aus vielen Perspektiven so wuchtig und monolithisch wirkt, so besteht er doch aus unzähligen Gipfeln, noch mehr Türmchen und überraschend tief eingeschnittenen Tälern. Besonders beliebt ist naturgemäß der höchste Punkt, der Piz Boè, unser heutiges Tourenziel. Die Wettervorhersage ist fantastisch, uns erwartet ein ausgezeichnetes Panorama!

Mühsamer Aufstieg über Schuttfelder

Die morgendliche Anfahrt von Wolkenstein zum Pordoijoch zieht sich ganz schön. Über das Sellajoch kommen wir noch recht flott drüber, hängen dann aber schon kurz nach der Passhöhe hinter einem Reisebus gefühlt fest. Meine leise Hoffnung, dieser könnte ja weiter talwärts nach Canazei abbiegen, erfüllt sich leider nicht. Wir folgen dem Bus also in gemütlichem Tempo durch dutzende Kehren hinauf zum Pordoijoch, immerhin einer der höchsten befahrbaren Dolomitenpässe. Überholmöglichkeiten gibt’s über unzählige Kilometer nicht. Was lange währt, wird endlich gut: irgendwann stehen wir auf dem noch recht leeren Großparkplatz und machen uns bergfertig. Ich schultere meinen Rucksack und mache mich alleine auf den Weg zur Pordoischarte. In der bin ich mit Doro verabredet, die mir etwas Vorsprung lassen und mit der Seilbahn zum benachbarten Sass Pordoi fahren wird.

Bei dem Ausblick drehe ich mich im Aufstieg fast ständig um
Bei dem Ausblick drehe ich mich im Aufstieg fast ständig um

Zunächst ist der Steig noch ganz prima, und ich komme recht gut voran. Je höher ich komme, desto besser wird nicht nur die Aussicht zur nahen Marmolata, sondern leider auch der Untergrund im gleichen Ausmaß schlechter. Aus einzelnen Steinen ist längst Schutt geworden, der auch bald von feinerem Geröll abgelöst werden wird. Die morgendliche Sonne hat zudem schon fast den gesamten Anstiegsweg erreicht, so dass die ca. 600 Höhenmeter insgesamt schweißtreibend ausfallen. Ich komme allerdings erfreulich gut voran, auch wenn die ständig über mich hinwegeilenden Seilbahnen gelegentlich neidische Gefühle aufkommen lassen. Ich bin aber ganz froh, als ich pünktlich das kaum frequentierte Rifugio in der Pordoischarte erreiche – ab jetzt wird’s gemütlicher!

Es könnte so einfach sein ...
Es könnte so einfach sein …

Im Gänsemarsch zum Gipfel

Es dauert nur wenige Minuten, bis auch Doro am Treffpunkt eintrifft. In der Zeit hat sich aber einiges verändert. Ganze Menschenmassen sind den Steig von der Seilbahn heruntergekommen und sammeln sich auf der Terrasse. Meine Laune sinkt beständig, ganz besonders als eine größere Gruppe auch noch irgendwelche schwer verständlichen Lieder anstimmt. So richtig genießen kann ich die ersten Blicke ins Innere des Sellastocks ehrlich gesagt nicht: mir gefallen die Berge in ihrer natürlichen Ruhe einfach besser.

Da kommt Freude auf!
Da kommt Freude auf!

Ich freue mich darum sehr, als wir uns nun zu zweit auf den restlichen Weg zum Piz Boè machen. Endlich wieder ein wenig Ruhe, auch wenn das nur von kurzer Dauer ist: nach den ersten flacheren Passagen zweigt unser Gipfelanstieg zum Piz Boè bald ab. Aber natürlich wollen alle dort hinauf – und als es steiler wird, bilden sich ein regelrechter Gänsemarsch. An den versicherten Passagen stockt dieser dann auch hin und wieder, aber wir nutzen die staubedingten Wartezeiten, um das großartige Panorama zu bestaunen. Gerade der Blick zur gegenüberliegenden Marmolata ist besonders anziehend!

Es bleibt schwierig, woanders hinzuschauen ...
Es bleibt schwierig, woanders hinzuschauen …

Es ist nicht mehr weit zum höchsten Punkt, als wir einen alten Herrn – sicherlich deutlich älter als 80 Jahre! – überholen, der heute mit zwei Krücken den Piz Boè erklimmt. Erstaunlich, wie gut er seine Gehhilfen einsetzt: das Gelände ist felsig, unübersichtlich und erfordert immer wieder auch kräftiges Zupacken. Wir drücken die Daumen, dass er den restlichen Anstieg noch meistern wird.

Das Valon del Fos ist nur eines von mehreren Tälern im Sellastock
Das Valon del Fos ist nur eines von mehreren Tälern im Sellastock

Weite Gipfelausblicke

Noch zwei, drei Mal eine Hand an den Fels gebracht, die eine oder andere Serpentine durchschritten – und dann stehen wir am Piz Boè, am höchsten Punkt der vielgipfeligen Sella! Wir sind natürlich nicht die einzigen, aber es ist für alle Besucher mehr als genügend Platz vorhanden. Wir genießen nicht nur unsere ausgiebige Brotzeit, sondern auch die wunderbare Aussicht in (fast) alle Himmelsrichtungen. Ganz im Westen glitzern die Gletscher von Ortler- und Adamellogruppe, als wären sie zum Greifen nah. Die Ötztaler Alpen stehen mit der Wildspitze als höchstem Gipfel da natürlich kaum zurück, erscheinen aber aus dieser Perspektive wegen der bereits geschmolzenen südseitigen Gletscher weniger imposant.

Perfekte Fernsicht, hier nach Westen bis zur Ortlergruppe
Perfekte Fernsicht, hier nach Westen bis zur Ortlergruppe

So schön die Fernsicht auch ist, so sehr begeistern mich heute ganz besonders die umliegenden Gipfel. Fast alle kenne ich gut, manche aber natürlich nur vom Anschauen. Besonders die Fanesgruppe zieht heute immer wieder meine Blicke auf sich. Erst vor zwei Jahren habe ich hier in einem Bergurlaub zahlreiche Touren unternommen, an die ich mich gerne erinnere: der gesprengte Gipfel des Col di Lana, der so unscheinbare, aber aussichtsreiche Setsas und natürlich die imposante Lavarela direkt über dem Gadertal!

Vom Sellastock aus betrachtet wirkt die Fanesgruppe überraschend kompakt
Vom Sellastock aus betrachtet wirkt die Fanesgruppe überraschend kompakt

Auch weiter in Richtung Osten reiht sich ein bekannter Gipfel an den anderen. Genau hinter dem Seekofel zeigt sich glasklar der Großglockner. Selten zuvor habe ich so einen aussichtsreichen Bergtag erlebt. Ortler und Großglockner trennen knappe 200 km Luftlinie – und unzählige Gipfel, die heute alle zu bewundern sind. Der zwischenzeitlich aufbrandende Applaus hätte diesem Panorama gelten können, ein Blick zum Gipfelkreuz verrät uns aber, dass der Senior erfolgreich am höchsten Punkt angekommen. Ihm erscheint der Respekt aller vor seiner Leistung nicht ganz geheuer, aber trotzdem strahlt er über das ganze Gesicht – zu Recht, wie ich finde!

Die Gletscher des Großglockners leuchten unübersehbar in der Sommersonne
Die Gletscher des Großglockners leuchten unübersehbar in der Sommersonne

Nur in Richtung Venetien ist die Aussicht leider nicht so gut. Die Wolken beginnen schon an den Ampezzaner Dolomiten. Hinter Civetta, Pelmo und Antelao zeigt sich eine weiße, meist dicht geschlossene Wolkenbank. Gerne hätte ein paar Blicke in Richtung Adria geworfen, aber daraus wird heute nichts werden.

Heute sind einige der schönsten Dolomitengipfel lieber inkognito unterwegs ...
Heute sind einige der schönsten Dolomitengipfel lieber inkognito unterwegs …

Vereiste Passagen im Abstieg

So schön das Panorama auch ist – irgendwann reißen wir uns los. Der Abwechslung halber nehmen wir den Steig zur Boè-Hütte in Angriff. Zur Verwirrung zahlreicher Touristen liegt diese nämlich nicht am Gipfel (die Hütte dort ist die Capanna Fassa) sondern auf der Zwischenebene ausgangs des nicht mehr begehbaren Mittagstals. Der Abstieg dorthin ist recht steil, wird uns aber kaum vor Herausforderungen stellen.

Ein Hauch von grünen Wiesen lässt auf Leben bei Kolfuschg schließen
Ein Hauch von grünen Wiesen lässt auf Leben bei Kolfuschg schließen

Aber es kommt dann doch anders: An einer glücklicherweise versicherten Passage sind Felsen und eingebaute Holzstufen ganz schön vereist. Die Herausforderung wird ergänzt durch Touristen, die die vielsprachigen und überdeutlichen Hinweisschilder auf den alternativen Aufstiegsweg natürlich übersehen und jetzt im Weg herumstehen. Wir kommen aber gut hinunter und erreichen wieder das gewohnt geröllige Gelände.

Das frisch sanierte Rifugio Boè versprüht einen Hauch von Zivilisation
Das frisch sanierte Rifugio Boè versprüht einen Hauch von Zivilisation

Kurz vor dem Rifugio Boè wenden wir uns nach Süden und folgen dem meist flachen Wegverlauf über die Hochfläche. Der eine oder andere Tiefblick ins Valon del Fos begleitet uns, das wir dabei zur Hälfte umrunden. Und wären nicht so viele andere Menschen unterwegs, könnten wir uns wie auf dem Mond fühlen. Zwar gibt es immer wieder einzelne Pflanzen wie den Alpenmohn zu finden, Farben fehlen in dieser zwar trostlosen und doch faszinierenden Landschaft absolute Mangelware. Immerhin hat ein relativ frischer Felssturz vom Piz Boè ein paar erdige Rottöne freigegeben.

Und hinter der nächsten Ecke trainiert eine Astronautengruppe?
Und hinter der nächsten Ecke trainiert eine Astronautengruppe?

Spätsommerliche Nachmittagsstimmungen

Den finalen Abstieg vom Rifugio Forcella Pordoi verschiebe ich noch etwas und gehe mit Doro hinauf zum Sass Pordoi. Die Sonne spendiert der Landschaft nun wieder schön weiche Farben, die ich unbedingt noch auf den Kamerachip bannen möchte.

Unerwartete Ausblicke auf dem Weg zum Sass Pordoi
Unerwartete Ausblicke auf dem Weg zum Sass Pordoi

Am Sass Pordoi ist dann weniger los, als ich dachte: die meisten Rückkehrer vom Piz Boè scheinen direkt zur Bergstation zu streben. Wir bleiben also noch länger in der Nachmittagssonne sitzen und genießen die wunderbaren Aussichten und furchteinflössenden Tiefblicke.

Perfekter Blick über die letzten Ausläufer der Sella zur Langkofelgruppe
Perfekter Blick über die letzten Ausläufer der Sella zur Langkofelgruppe

Und dann ist es aber Zeit für mich, den Abstieg zu beginnen. Es sind zwar nur etwa 700 Höhenmeter, aber es ist schwer einzuschätzen, wie schnell sich die schuttreichen Hänge unterhalb der Pordoischarte im Abstieg begehen lassen. Oder wie sehr ich mich mal wieder von den wunderbaren Blicken zur Marmolata ablenken lasse …

Die Sonne verwöhnt die Marmolata mit einem weichen Nachmittagslicht
Die Sonne verwöhnt die Marmolata mit einem weichen Nachmittagslicht

Fazit

An so einem perfekten Bergtag war die Paradetour auf den Piz Boè natürlich etwas überlaufen. Aber es hat sich trotzdem sehr gelohnt: die Aussicht war einfach so grandios, wie man es von einem der 3.000er der Dolomiten auch erwarten darf!

Tourendatum: 12. September 2022

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