Mitte Oktober zeigt sich der Spätsommer noch ein letztes Mal in diesem Jahr von seiner schönsten Seite. Spontan nehme ich mir einen Tag frei und fahre morgens mal wieder ins Zwischentoren. Nachdem ich die wichtigsten, für mich gut erreichbaren Gipfel des Danielkamms bereits bestiegen habe, wird es Zeit, einmal auf der anderen Talseite vorbeizuschauen. Zwar habe ich mit Grubigstein und Bleispitze schon einmal zwei Berge am Rand der Loreagruppe besucht, aber da gibt’s ja noch mehr. Gerade zum Roten Stein habe ich schon viele Jahre immer wieder aus den Ammergauer Alpen hinübergeschaut – es wird Zeit, diesen formschönen Gipfel zu besuchen!
Inhalt
Anstieg ins Bichlbächler Jöchl
So spät im Jahr erreicht die Sonne morgens nicht mehr Bichlbach. Ich laufe also im Schatten in Richtung Berwang – und freue mich über den wärmenden Wind. Der angekündigte Föhn kommt heute gerade recht. Den Abzweig nach Bichlbächle kenne vom Abstieg von der Bleispitze zwei Monate zuvor noch ganz gut und stiefele routiniert das Asphaltsträßchen neben der kleinen Hofstelle Klein-Stockach hinauf. Dennoch freue ich mich, als ich endlich ins kleine Seitental namens Regall abbiegen kann. Auch hier hat’s die Sonne noch nicht über die Bergkuppen geschafft, aber spätestens jetzt wird’s sowieso warm vom Aufstieg. Bei einer Verschnaufpause schaue ich zurück und kann mich bereits über eine stattliche Anzahl an bewältigten Höhenmetern freuen. Aber nicht nur das: die Sonne erreicht exakt den kleinen Geländeabsatz, auf dem die Höfe von Klein-Stockach stehen. Da hat jemand vor vielen Jahrhunderten genau den richtigen Ort für eine neue Hofstelle gesucht und gefunden!
Je höher ich im Talschluss ansteige, umso mehr fiebere ich der Sonne entgegen. Der Wind ist zwar weiterhin angenehm warm, aber die Herbstfarben bleiben im Schatten einfach blass. Hin und wieder ist der Steig auch etwas glitschig, bleibt aber mit Ausnahme einer Geröllstrecke weitgehend einfach. Immerhin erstrahlt bereits der Rote Stein mit seinem felsigen Gipfelaufbau in der Sonne.
Schließlich stehe ich im Bichlbächler Joch und genieße erst einmal die Sonne. Und nachdem ich noch hier gewesen bin, gibt es erst einmal so viel zu entdecken. Ganz neue, frische Gipfel und unbekannte Steige warten nur darauf, von mir entdeckt zu werden. Ich bin schon fast ein wenig überwältigt von den vielen Möglichkeiten, denn alles sieht verlockend aus. Linkerhand geht’s zur Gartnerwand hinauf und direkt vor mir erstreckt sich ein tiefes Tal, auf dessen anderer Seite einige mehr oder weniger spitze Gipfel stoisch stehen. Ich bleibe allerdings bei meinem Plan und halte mich rechts – und werde nicht enttäuscht!
Fast bis zum Roten Stein
Unterhalb der wilden, für mich unzugänglichen Schafsköpfen komme ich in der langen Querung gut voran. Der Steig ist meistens gut zu gehen, weist aber auch ein, zwei unangenehmere Passagen auf. Bei einer muss ich gleich zwei Mal hinschauen, finde aber auch dann keine Seilversicherung. Mit sauber gesetzten Füßen über schmalen Tritten geht’s dann aber auch ohne.
Dennoch bleibt bei mir das Gefühl, dass die Wege über dem hinteren Kälbertal nicht mehr allzu häufig begangen werden. Mit dem Fernpass ist die Zivilisation keinesfalls weit weg, dennoch sagen sich hier offenbar Fuchs und Hase Gute Nacht.
Nach einer Schutthalde geht’s wieder aufwärts, noch etwa 400 Höhenmeter sind bis zum Roten Stein zu absolvieren. Bald wird das Gelände etwas mühsamer und steiler, aber ich beschließe, noch keine Pause einzulegen. Es ist schließlich nicht mehr weit bis zum Gipfel. Nachdem der Steig einmal an einer Abbruchkante vorbeigeführt hat, wird das Gelände dann sogar etwas technischer. Steinsplitter kommen jetzt häufiger auf dem schmalen Steig vor, hin und wieder geht der Blick in die Tiefe, der Charakter wird alpiner.
Nach einer felsigen Passage komme ich zu einer kniffligen Passage: eine Rinne muss kürzlich ausgewaschen worden sein. Seilversicherung gibt’s natürlich keine, am oberen Ende der Rinne gibt’s einen mit Split bedeckten felsigen Übergang. Ein Fehltritt dort führt zwangsläufig zu einem Abrutschen in die Rinne. Ich schaue mir die Stelle für zwei, drei Minuten an – und entscheide mich schließlich zur Umkehr.
Ich steige wieder etwas ab und hole im gemütlicheren Gelände die längst überfällige Pause nach. Knappe 1.300 Höhenmeter mit nur einer kurzen Trinkpause sind eben dann doch etwas grenzwertig gewesen. Zwei Semmeln und ein Apfel später kehren dann aber die körperlichen und geistigen Kräfte langsam zurück. Den Roten Stein lasse ich dennoch hinter mir zurück und werde bei einer anderen Gelegenheit noch einmal wiederkommen. Auf der Karte finde ich schnell eine Alternative, die ich auch auf einem Wegweiser etwas tiefer schon einmal gelesen habe. Vom Östlichen Kreuzjoch habe ich zwar vorher noch nie etwas gehört, aber mit dem guten Gefühl, für mich heute eine gute Entscheidung getroffen zu haben, mache ich mich auf den Weg!
Das Östliche Kreuzjoch ist ein großartiges Gipfelziel
Mit überraschend guter Laune mache ich mich an den Zwischenabstieg zu einem kleinen Plateau zu Füßen des Östlichen Kreuzjochs. Dabei entdecke, dass der Steig bald über ein steiles Schuttfeld ansteigen wird. Das wird sicherlich ein mühsames Unterfangen werden – und schneller als gedacht, stehe ich am Fuß des Anstiegs. Ich mühe mich mit etwas Stockeinsatz hoch, dabei gilt die Devise: zwei Schritte vor, einer zurück. Zwar sind hin und wieder auch feste Steine eingestreut und im Aufstieg geht’s noch, die Vorfreude auf den Abstieg hält sich aber stark in Grenzen.
Schließlich erreiche flacheres Gelände, auf dem der Steig auf die Ostseite quert. Noch ein kleiner, aber lästiger Zwischenabstieg, dann löst sich der Steig sogar in den weitläufigen Wiesen immer wieder mal auf. Der finale Anstieg zum nahen Gipfelkreuz lässt sich zwar nicht verfehlen, fällt aber langwierig aus. Das große Gipfelkreuz wirkt einfach viel zu nah und das steile Gelände bringt meine Oberschenkel an ihre Grenzen. Mittlerweile sind auch schon fast 1.700 Höhenmeter im Aufstieg zusammengekommen …
Jeder Anstieg hat einmal ein Ende, so auch der zum Östlichen Kreuzjoch. Durchaus erschöpft schlage ich am Gipfelkreuz an und genieße erst einmal die Rundumsicht. Ich stehe mehr oder weniger direkt über dem (nicht zu hörenden) Fernpass und schaue unter einem gänzlich ungewohnten Blickwinkel hinüber zur Mieminger Kette. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich die steil abbrechende Flanke als Quelle des Bergsturzes vorzustellen, der vor ca. 4.000 Jahren den Fernpass gebildet hat.
Auf der anderen Seite des Östlichen Kreuzjochs setzt der Kamm über das Nördliche Kreuzjoch zur Steinmandlspitze fort. Ein weiterer wilder Kamm verbindet diese dann mit dem Roten Stein, dem ich vorhin schon so nah war. Die schon etwas tiefer stehende Herbstsonne leuchtet die Gartner Wand besonders gut aus. Mit dem Östlichen Kreuzjoch ist mir bislang ein wunderbarer Aussichtsgipfel offenbar entgangen!
Sprint zum Fernpass
Eigentlich könnte ich noch lange auf dem Östlichen Kreuzjoch sitzen bleiben und mich an den wunderbaren Panoramen erfreuen. Aber vorsichtshalber schaue ich mal auf’s Handy und prüfe die Busverbindungen vom Fernpass zu den Bahnhöfen in Ehrwald oder Lermoos. Kurz vor 17 Uhr fährt ein Bus, der nächste aber erst gegen 19 Uhr. Ich habe also nicht einmal mehr zwei Stunden, wenn ich eine längere Wartezeit im Dunklen vermeiden möchte. So schnell habe ich selten zusammengepackt – ich kenne schließlich große Teile des Abstiegswegs nicht und weiß nicht, was noch auf mich zukommen wird. Aber auch das mir eigentlich vom Aufstieg noch bekannte Gelände birgt so seine Tücken, denn ich verwechsele schon gleich zu Beginn die Steigspuren. Es dauert zwei, drei Minuten bis mir mein Fehler auffällt. Immerhin kann ich mit überschaubarem Risiko weglos in steilem Gelände absteigen und bin bald wieder planmäßig unterwegs.
Wenige Minuten später erreiche ich dann auch schon die Geröllhalde. Der Eindruck vom Aufstieg hat mich getäuscht: es geht besser als gedacht, auch wenn natürlich der halbe Hang immer wieder ins Rutschen zu geraten scheint. Überraschend sicher erreiche ich den Fußpunkt und folge nun dem mir unbekannten Steig zur Galtberghütte. Dabei bewege ich mich ständig an der Schattengrenze, die Sonne sinkt nun rasch hinter die Bergkämme.
Der Weg von der kleinen Hütte hinunter zum Hinteren Pirchboden ist dann auch schnell absolviert. Die allermeisten Höhenmeter liegen nun bereits hinter mir, es folgen einige Kilometer durch das Kälbertal. Das ist eigentlich nur noch eine Formsache, aber hin und wieder wird die Orientierung etwas anspruchsvoller: auf den eingestreuten Wiesen verläuft sich der Steig regelmäßig. Mit etwas Glück erwische ich aber immer die nächste richtige Gasse im dazwischenliegenden, unübersichtlichen Baumbestand. Nach einiger Zeit erreiche ich eine richtige Forststraße und vermute, dass nun alle Herausforderungen hinter mir liegen. Aber weit gefehlt: die eine oder andere Furt ist noch auf wackligen Holzstangen zu überqueren. Immerhin bleibe ich dabei trocken …
Kurz vor dem Fernpass heißt’s noch einmal aufpassen. Ein kleiner, unauffälliger Steig führt über eine Wiese hinweg und erreicht eine nicht ganz willkommene Gegensteigung. Steil geht’s auf der anderen Seite hinunter und nach einigen Kurven dreht der Steig endlich wieder auf Richtung Osten. Den Fernpass kann ich nun zwar noch nicht sehen, jedoch deutlich hören. Wenige Minuten später erreiche ich dann auch die vielbefahrene Bundesstraße. Die dazugehörige Bushaltestelle muss ich nicht lange suchen, sie befindet sich direkt gegenüber in der Tankstellenausfahrt. Eingeklemmt zwischen Straße und Tankstelle stehe ich als Fußgänger etwas blöd in der Gegend herum und fühle mich überaus deplatziert. Der Straßenlärm und vor allem der Gestank des noch nicht und bereits verbrannten Sprits lassen die gefühlte Wartezeit auf den geringfügig verspäteten Bus lange erscheinen. Als er endlich kommt, gibt’s Grund zur Freude: die Luft im Inneren ist um Welten besser als die draußen …
Fazit
Spannende Improvisation, Einblicke in ein mir unbekanntes Gebiet, perfektes Herbstwetter und knappe 1.800 Höhenmeter lassen keinen Zweifel: auch wenn ich mein ursprüngliches Gipfelziel, den Roten Stein, nicht erreicht habe, war dieser Tag im Goldenen Oktober einfach wunderbar. Das Östliche Kreuzjoch scheint darüber hinaus ein echter Geheimtipp zu sein – beim nächsten (dann geplanten) Besuch würde ich die Gehrichtung allerdings aus logistischen Gründen umkehren.
Tourendatum: 13. Oktober 2023
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