Nach dem noch weitgehend gemütlichen ersten Tag wird der zweite Tag meiner Hüttentour in der Erlspitzgruppe fordernd werden: erst werde ich den Freiungen-Höhenweg begehen – und hoffe dann noch genügend Kraft und Zeit zu haben, die Erlspitze selbst über den Klettersteig am Westgrat besteigen zu können. Allerdings hat sich die Wettervorhersage etwas eingetrübt, möglicherweise ziehen im Laufe des Nachmittags Gewitter auf. Ein früher Start in der Nördlinger Hütte wird also nötig sein.
Inhalt
Eine ungemütliche Nacht im Lager
Für den frühen Start wäre eine erholsame Nacht natürlich förderlich. Zwar schlafe ich im Lager der Nördlinger Hütte schnell ein, wache aber irgendwann nachhaltig auf. Um mich nicht ständig hin- und herzuwälzen, stehe ich kurz auf und verschaffe mir ein wenig Bewegung: als ich das Lager verlasse, erleide ich fast einen Frischluftschock. Ich kann mir gut vorstellen, warum ich aufgewacht sein muss: dem vorzüglichen nepalesischen Linsengericht haben abends wohl noch mehr Übernachtungsgäste zugesprochen. Nach einer Viertelstunde Lüften mittels eines ziemlich kleinen Fensters traue ich mich zurück. Beim nächsten Mal investiere ich dann wieder ein paar Euro mehr für ein Zimmer …
Einfache Passagen in der morgendlichen Kühle
Als mich dann mein Handy morgens weckt, ist das Fenster immer noch offen – und die Luft einigermaßen erträglich. Mit dem wunderbaren Gefühl, einige Menschenleben gerettet zu haben, bin ich einer der ersten beim Frühstücksbuffet. Gut gestärkt packe ich meinen Rucksack, trage mich im Hüttenbuch aus – und entdecke im Eingangsbereich der Hütte eine originelle Rucksackwaage. Trotz meiner Klettersteigausrüstung bin ich so erfreulich wie überraschend noch im grünen, spartanischen Bereich. Ganz leicht fühlt sich mein Rucksack dennoch nicht an, als ich mich auf den Weg in Richtung Solsteinhaus mache. Bevor es aber richtig losgeht, folgt natürlich bereits der erste Fotostopp, um die schöne Morgenstimmung an der Nördlinger Hütte einzufangen.
Es dauert ein wenig, bis ich alle Fotos im Kasten habe: als ich loslaufe, sind bereits einige wohlbekannte Hüttengäste vor mir auf dem Weg hinunter zum Ursprungsattel. Die Sonne erreicht noch nicht alle Stellen, so dass der Tau noch für einige rutschige Abschnitte sorgt. Das macht aber gar nichts, denn das Gelände ist zunächst recht einfach und verzeiht Fehler: noch muss nicht jeder Tritt sitzen und hin und wieder gibt es Versicherungen. Im Ursprungsattel trennen sich wenig später die Grüppchen: viele halten sich hier links und verlassen den Grat. Die nordseitige Umgehung des Freiungen-Höhenwegs scheint auf dem Weg zum Solsteinhaus sehr beliebt zu sein. Ich folge jedoch den vor der Gefahr warnenden Schildern und mache mich auf den direkten Weg. Wird schon nicht so schwer werden!
Die Abgründe werden bald tiefer
Zunächst wird der Steig angenehm abwechslungsreich: hier mal die Hand an den Fels legen, dort wieder eine flotte Gehpassage. Ich komme jedenfalls zügig vorwärts und freue mich, wenn es so weitergehen würde. Das stellt sich zwar im Laufe der nächsten Stunden als Wunschdenken heraus, aber noch fällt es mir nicht so auf: auf eine nette Kletterei an einer Felsstufe folgt noch einmal schönes Gehgelände bis fast ganz hinauf zu den Freiungenspitzen. Selten bin ich ganz oben am Grat, meistens folgt der per se gut angelegte Steig geringfügig niedriger den südlichen Flanken. Diese sind fast überall unangenehm steil und der beständige Tiefblick auf der rechten Seite ist – zumindest für mich – nicht ganz ohne.
Trotz bester Vorsätze verliere ich zudem im Laufe der Zeit die Orientierung: hier ein Türmchen, dort ein Felsklotz – was ist nun eigentlich was? Und wo bitte schön bleibt die Kuhljochspitze als Zwischenstation auf dem Weg zur Erlspitze? Bald sieht alles gleich aus und leider rückt der GPS-Punkt auf der Karte auch nur sehr langsam vorwärts. Aber es geht vorwärts, über weite Strecken jedoch im durchaus anspruchsvollen Gelände: zwar sind die schwierigsten Stellen versichert, das allerdings eher spärlich. Die Sektion Innsbruck hat immer wieder am Stahlseil gespart und oft denke ich mir, dass ein Meter zusätzliches Seil ganz nützlich sein könnte. Gerade der Einstieg in schwierigere Passagen bleibt oft unversichert. Aber letztlich halten sich die Einzelschwierigkeiten in Grenzen, fordernd ist für mich eher die andauernde psychische Belastung. Ich bin dankbar für jede Entlastung im glücklicherweise immer wieder eingestreuten, leichteren Gehgelände.
Kein Abstecher zur Kuhljochspitze
Nachdem das meist sehr steile Gelände wenig Pausenmöglichkeiten bietet, freue ich mich regelrecht darauf, als der Sattel vor der Kuhljochspitze mit viel Platz zu punkten weiß: endlich den Rucksack ablegen, einen gemütlichen Sitz finden, Essen und Trinken. Ich habe zwar damit gerechnet, dass der Freiungen-Höhenweg alles andere als ein Spaziergang wird, bin aber doch etwas überrascht, wie sehr sich die Passagen ziehen. Ich hatte nicht erwartet, so gefordert zu werden und freue mich sehr über die dringend notwendige Pause. Reichlich spontan entscheide ich mich dann jedoch gegen den Abstecher zur Kuhljochspitze: der Gipfelanstieg sieht noch einmal sehr anstrengend aus – und ich spare lieber noch etwas Kraft auf. Wer weiß, was noch vor mir liegen wird?
Gleich das nächste Teilstück macht wenig gute Laune, zumindest von meinem Pausenplatz aus: sandig feine, ausgewaschene Rinnen mit einem Steig dazwischen, der immer wieder abzurutschen droht. Nicht gerade mein Lieblingsgelände. Aber als ich näher komme, sind die Bedingungen besser als gedacht und der Steig stabiler als er gerade noch aussah. Das Gelände beruhigt sich bald schon wieder und an einer Verzweigung kommt ein relativ einfacher Steig von Hochzirl hinauf. Ich widerstehe der Abkürzungsmöglichkeit und folge weiter dem Höhenweg in Richtung Eppzirler Scharte – und hoffe, alle ernsthaften Schwierigkeiten bereits hinter mir gelassen zu haben.
Umsonst die Klettersteigausrüstung mitgeschleppt
Mein Optimismus stellt sich jedoch bald als verfrüht heraus: nach einem grasigen Aufschwung wechselt der Steig wieder in einen gewaltigen Erosionshang. Stellenweise ist der Fels immerhin blank, oft findet sich aber eine ungemütliche Rollsplitauflage. Und das alles hoch oben über dem tief eingeschnittenen Bachlauf einige hundert Höhenmeter weiter unten. Zwar ist der Steig gut angelegt und abschnittsweise versichert, auf meiner Beliebtheitsskala rangiert er jedenfalls eher im unteren Drittel. Vielleicht bin ich aber auch von der stundenlangen Anstrengung bereits etwas weichgeklopft. Als ich endlich im vollständig grauen Höllkar unterhalb der Eppzirler Scharte ankomme, kann mich die Ausicht auf den Klettersteig zur Erlspitze kaum mehr locken. Eigentlich will ich jetzt nur noch durch den Schutt abfahren und endlich den sattgrünen Latschengürtel oberhalb des Solsteinhauses erreichen. Verrückt, dass ich mich einmal nach Latschen sehnen …
Im nun leichten Gelände erreiche ich nach kurzer Zeit bereits das Solsteinhaus. Möglicherweise habe ich gerade einen neuen Weltrekord von der Scharte bis zum kühlen Spezi auf der sonnenverwöhnten Terrasse aufgestellt? Der folgende Abstieg nach Hochzirl zieht sich wie so oft ewig – fühlt sich aber ganz anders an als bei meinen früheren Begehungen. Insbesondere die Querung des tief eingeschnittenen Ehnbachs mit seinen gerölligen Ufern sehe ich unterhalb der letzten herausfordernden Passage nun mit ganz anderen Augen.
Fazit
Tja, den Freiungen-Höhenweg habe ich nun also absolviert – aber die eingeplanten beiden Gipfel nicht erreicht. Ich darf somit noch ein- oder zweimal in die facettenreiche Erlspitzgruppe wiederkommen. Abgesehen davon habe ich einen schönen Bergtag erleben dürfen: zwar war ich durchweg gefordert und die Sicht an diesem Tag sehr diesig, aber das Wetter hat letztlich gehalten. Ganz nebenbei habe ich viel Routine in ausgesetzten Passagen hinzugewinnen können. Auch in der Gesamtbetrachtung hat sich die Zweitagestour in der Erlspitzegruppe mehr als gelohnt!
Tourendatum: 14. September 2021
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