Schon seit Jahren liebäugele ich mit der Umrundung des Kühalpenbachtals: dieses kurze Tal erstreckt sich von Graswand nach Süden in die Ammergauer Alpen hinein. Es ist trotz seiner übersichtlichen Länge von zahlreichen Gipfeln gesäumt, die allesamt leicht zu besteigen sind. Die Herausforderung liegt darin, alle an einem einzigen Tag zu besuchen. Auf mich warten etwa 2.000 Höhenmeter im Auf- und Abstieg!
Inhalt
Start im Morgengrauen
Der Wecker klingelt früh, um nicht zu sagen: sehr früh. Bereits um 5 Uhr verlasse ich das Haus und erreiche zwanzig Minuten später den Parkplatz des gebuchten Carsharing-Autos. Ein paar Minuten verliere ich beim Versuch, das mal wieder wegen einer Baustelle veränderte Einbahnstraßensystem zwischen Leopoldstraße und Englischem Garten zu überwinden. Dann bin ich endlich auf dem Weg in Richtung Berge. Die Autobahn ist so gut wie leer, die Nacht noch absolut finster und die Sterne funkeln. Erst kurz vor dem Autobahnende bei Eschenlohe beginnt die Dämmerung. Als ich auf den noch völlig leeren Parkplatz in Graswang rolle wird es langsam heller: im eiskalten Morgengrauen beginne ich die Tour.
Gleich hinter dem Parkplatz wartet eine geologische Kuriosität: die Linder versickert gewöhnlich vor Graswang und tritt einige Kilometer später als Ammer erneut an die Oberfläche. Trotzdem gibt es ein sogar recht breites Flußbett, das jedoch nur während der Schneeschmelze oder nach Starkregen Wasser führt. Staubtrockenen Fußes gelange ich also auf die andere Flussseite, auf der ich den Anstieg in Richtung Kühalpenbachtal beginne. Die Sonne hat es noch nicht über die Notkarspitze geschafft, es ist weiterhin sehr kalt. Ich versuche, mich warmzuhalten – und verpasse vor lauter Fröstelei fast den Abzweig des Steigs zum Mittagkopf. Schilder und Markierungen gibt es hier nicht, zufällig steigt hier sicherlich niemand hinauf.
Die Gratwanderung beginnt am Mittagkopf
Zunächst noch im Schatten folge ich dem schmalen Steig, der zügig bergwärts führt. Meter für Meter geht es durch den Wald hinauf. Die Eintönigkeit macht mir heute nicht viel aus, ich konzentriere mich nur auf den Rhythmus. Als die Sonne endlich die Bergflanke erreicht, wird es schnell warm. Ich verstaue das Vlies im Rucksack, dafür darf nun die Kamera ein wenig Novemberluft schnappen: immer öfter passiere ich Blickfenster oder Lichtungen im sonst dichten Wald.
Einen Höhenmesser benötige ich nicht, die Natur zeigt mir deutlich meinen Fortschritt: die Laubbäume bleiben immer mehr zurück, die Nadelbäume dominieren bald. Als fast noch die Krummlatschen die Landschaft prägen, erreiche ich einen deutlichen Geländeabsatz unterhalb des Mittagkopfs.
Diesen ersten Gipfel muss ich mir allerdings hart erkämpfen. Nach bereits fast 1.000 Höhenmetern ohne nennenswert flache Passagen muss ich im sehr steilen Gelände noch einmal alle Kräfte mobilisieren. Endlich lehnt sich das Gelände zurück, die letzten Meter zum Mittagkopf lege ich rasch zurück: ich stehe auf dem ersten Gipfel des heutigen Tages. Die Gratwanderung kann endlich beginnen!
Anspruchvolles Gelände bis zum Kienjoch
Der Steig orientiert sich direkt am Grat – und gefällt mir sehr. Gleich zu Beginn steige ich in eine Senke hinab, auf der anderen Seite geht es zügig wieder hinauf. Bald wechseln sich Latschengassen und felsige Passagen ab. Obwohl der Steig immer in Gratnähe bleibt, ist auf dem weiteren Weg zum Kieneckspitz Aufmerksamkeit mehr als hilfreich: nicht immer ist mir sofort klar, durch welche Latschengasse der Steig fortsetzt. Aber es läuft gut, meine Intuition hat einen guten Tag erwischt. Auf dem Kieneckspitz verschnaufe ich kurz: das nur wenige Meter höhere Kienjoch scheint schon zum Greifen nah. Es wird allerdings noch etwas dauern, bis ich dort ankomme: der Zwischenabstieg in eine weitere Gratsenke kostet nicht nur Zeit, sondern auch wertvolle Höhenmeter.
Dann ist es soweit: der Steig führt mich etwas vom Grat weg und unvermittelt stehe ich vor einem steilen Abbruch. In Tourenbeschreibungen habe ich nichts davon gelesen, eine Schuttreiße absteigen zu müssen. Die Spurenlage ist andererseits eindeutig: ich bin definitiv nicht der erste Besucher auf diesem Absatz. Ich schaue mich um und entdecke nicht weit vor mir den Steigverlauf auf einem Gratstück. Dort muss ich also hin. Mit dieser Information kann ich den Abstieg über die Schuttreiße endgültig ausschließen – stattdessen hangele ich mich an stabilen Latschen an der Geländekante entlang und somit zurück in Richtung Kammlinie. Es dauert nur ein paar Sekunden, bis ich wieder vernünftiges Gelände unter den Füßen habe. Und es kommt wie es kommen musste: von rechts schlängelt sich gemütlich der Steig herab. Da habe ich wohl zuvor einen falschen Abzweig genommen …
Zurück auf dem nun wieder einfachen Steig erreiche ich kurz darauf den Fuß des Kienjochs. Der Gipfelaufschwung fällt mir erneut recht schwer, aber um kurz nach 10 Uhr erreiche ich den höchsten Gipfel meiner heutigen Runde. Es ist allerdings auch endlich Zeit für eine längere Verpflegungspause! Praktischerweise sind um das Gipfelkreuz kurze Sitzbänke angebracht, so dass ich gemütlich in der Vormittagssonne sitzen kann. Die Aussicht ist wunderschön – ein lohnender Gipfel!
Gemütliche Wiesen rund um den Felderkopf
Allzu lange bleibe ich allerdings nicht am Kienjoch – der weitere Weg bis zur Notkarspitze wird noch sehr lang sein. Immerhin wird das Gelände in den nächsten Stunden besonders einfach sein, ich freue mich auf die sanften Wiesenlandschaften. Bereits wenigen Minuten nach dem Aufbruch vom Kienjoch erreiche ich den zumindest in meiner Gehrichtung mehr als unscheinbaren Geißsprungkopf. Auf der anderen Seite geht es zunächst steil abwärts in eine Einschartung. Hier zweigt die erste Abkürzungsmöglichkeit in Richtung Graswang ab, die ich natürlich auslasse – bisher ist schließlich alles gut gelaufen und ich bin sehr gut in der geplanten Zeit.
Der Anstiegsweg zum Windstierlkopf zweigt unauffällig vom Steig ab, aber ich entdecke ihn rechtzeitig. Ich folge dem schmalen Pfad an den Fuß einer abweisenden Wand, die ich bereits vom Kienjoch gesehen habe – und bin neugierig, wie ich hier wohl hinauf gelangen werde. Besonders aufregend wird es aber nicht, denn die Wegführung ist mehr als geschickt und nutzt natürliche Rampen im steilen Gelände perfekt aus. Ohne große Anstrengung erreiche ich den Windstierlkopf, dessen höchster Punkt den kurzen Abstecher vom Steig lohnt.
Nach einem kurzen Zwischenabstieg erreiche ich die weiten Wiesen rund um den unscheinbaren Felderkopf. Im Frühjahr und im Sommer müssen hier unzählige Blumen stehen. Aber auch heute, Mitte November, würde ich mich am liebsten für ein, zwei Stunden hier zu einem Mittagsschläfchen in der warmen Sonne hinlegen. Aber dafür ist der Zeitplan zu ambitioniert, ich gehe natürlich weiter zum nächsten Gipfel. Durch Latschengassen erreiche ich ziemlich genau zur Mittagszeit den Vorderen Felderkopf. Im aufkommenden Wind fällt die Halbzeitpause recht kurz aus – mit Speck, Ei, Brot und einer halben Schokolade im Bauch mache ich mich wieder auf den Weg.
Der Abstieg über die im Schatten liegende Nordflanke des Vorderen Felderkopfs ist eine Rutschpartie. Immerhin ist das Gelände einfach, so dass nichts passieren kann. Dennoch freue ich mich, als es in der Sonne wieder wärmer wird. Spätestens im kurzen Anstieg zum Großen Zunderkopf erreiche ich wieder Betriebstemperatur.
Erschöpft, aber glücklich auf der Notkarspitze
Der folgende Übergang zum Brünstelskopf orientiert sich zwar am Gratverlauf, weicht aber zunächst auf die schattige Nordseite aus. Einige der dortigen Passagen haben schon lange keine Sonne mehr gesehen, insbesondere die grasigen Passagen sind schmierig glatt. Ein kleiner Vorgeschmack auf den finalen Abstieg über die Nordflanke der Notkarspitze?
Mit dem Brünstelskopf erreiche ich schließlich sehr vertrautes Gelände: mein letzter Besuch auf diesem Gipfel liegt schließlich erst eine Woche zurück. Nach einer erneut kurzen Pause beginne ich den Abstieg ins Hasenjöchl. In der Vorwoche war ich hier ohne Stöcke unterwegs, was ich nicht wiederholen wollte: matschige und gefrorene Passagen wechseln sich in der Nordflanke des Brünstelskopfs ab – auch heute eine brisante Mischung, selbst wenn das Gelände nicht ausgesetzt ist.
Im Übergang angekommen ignoriere ich die letzte Möglichkeit, vorzeitig ins Kühalpenbachtal abzusteigen und somit die Tour abzukürzen. Ich bin weiterhin gut in der Zeit und möchte die Runde natürlich wie geplant zu Ende gehen. Selbst wenn dieser letzte Gegenanstieg zur Notkarspitze leider auch der längste der ganzen Tour sein wird. Satte 300 Höhenmeter werden gleich meiner Muskulatur noch einmal alles abfordern. Dank der Tour aus der Vorwoche kenne ich zumindest das Gelände und weiß, wo es steiler wird. Trotzdem fühlt sich dieser Anstieg sehr langsam an, meine Muskulatur sehnt sich nach der dringend notwendigen Erholung. Immer wieder muss ich der Versuchung zu einer längeren Pause widerstehen – sonst käme ich an dem Tag wohl nicht mehr oben an. Ich schleiche also weiter – und überraschenderweise dauert es gar nicht so lange, bis das Gipfelkreuz der Notkarspitze endlich in den Blick kommt. Noch 50, noch 25, noch 10 Höhenmeter – geschafft! Ich stehe auf dem letzten Gipfel der heutigen Tour – und kann es gar nicht so recht fassen.
Die meisten Gipfelbesucher brechen gerade zum Abstieg auf – ich finde heute also mit Leichtigkeit ein ruhiges Plätzchen in der Nachmittagssonne. Beine ausstrecken, Essen, Trinken, Ausruhen – aber schon nach 25 Minuten Erholung packe ich wieder zusammen. Der Abstieg über die Nordflanke der Notkarspitze ist nicht ganz ohne: der Steig ist oft schmal, so mancher Abgrund lauert direkt neben dem Weg. Hier möchte ich mich nicht beeilen müssen, insbesondere da die Nordflanke sicherlich matschig und rutschig sein wird. Und da die Sonne Mitte November auch nicht mehr allzu lange scheinen wird, mache ich mich wieder auf die Socken.
Schrecksekunde im Abstieg
Der Steig über den Nordgrat ist in einem guten Zustand, doch beim Abstieg ins Notkar erreiche ich winterlich anmutendes Gelände. Allerdings ist die weiße Schicht kein Schnee, sondern teilweise mehrere Zentimeter dicker gefrorener Rauhreif. Aus dem Notkar leitet mich der Steig hinüber in die Bergflanke oberhalb der Ettaler Mühle. Ich bin hier schon vor einigen Jahren gegangen und kann mich nur zu gut an den schmalen Steig erinnern. Damals war allerdings Sommer und der felsige Steig griffig – heute erinnert die Sache eher an eine Rutschpartie. Ich nehme mir genügend Zeit und erreiche geduldig und sicher die Bergflanke auf Höhe des Ziegelspitzes. Das Gelände dort ist zwar stellenweise sehr steil und absturzgefährdet, aber durch den meist dichten Wald wirkt es deutlich vertrauenerweckender als die vorherigen Passagen. Geduldig steige ich über die zahllosen Kehren ab und reihe mich bald hinter einer Zweiergruppe ein. Deren moderates Tempo passt mir gut ins Konzept: lieber etwas langsamer absteigen, aber dafür sicher unten ankommen.
Mit der Sicherheit ist es aber so eine Sache. Es reicht ja nicht, auf sich selbst aufzupassen – wenn die Mitmenschen unaufmerksam sind, kann es trotzdem Unglücke geben: durch das langsame Tempo hat von hinten ein Pärchen aufgeholt, das in einer engen Kehre kurz warten muss. Er ist offensichtlich gelangweilt, springt einen geringen Absatz herunter, tritt dabei einen faustgroßen Stein los – und der verfehlt nur um Haaresbreite den Kopf des vor mir gehenden Mannes. In diesem Absturzgelände wäre das wohl kaum gut ausgegangen …
In der Dämmerung zurück zum Parkplatz
Nach einer Schrecksekunde und ein paar berechtigten Ermahnungen in Richtung Verursacher sind beide Beteiligten aber wieder in der Lage, den Abstieg fortzusetzen. Und der erfolgt ohne weitere Zwischenfälle. Somit sind alle Schwierigkeiten überwunden – ich habe das Kühalpenbachtal über die Gipfel umrundet!
Als ich die Forststraße erreiche, setzt bereits die Dämmerung ein. Noch ein Fußmarsch von gut einer Stunde liegt vor mir, der Rückweg durch das Tal zum Parkplatz in Graswang ist leider sehr weit. Als ich nahe der Gertrudiskapelle den Wald verlasse, wird es endgültig dunkel und damit auch kalt. Ich lasse die Stirnlampe im Rucksack, die Lichter der nahen Ortschaft reichen mir zur Orientierung völlig aus. In Graswang selbst kommen mir dann unzählige Autos entgegen: sicherlich waren die klassischen Tourenziele entlang des ganzen Tals an diesem perfekten Spätherbsttag völlig überrannt. Durchgefroren erreiche ich den bereits völlig einsamen Parkplatz – und wärme mich erst einmal mit dem heißen Tee aus der im Kofferraum bereitgelegten Thermoskanne auf. Als ich mich eine halbe Stunde später aufgetaut und gestärkt auf die Heimfahrt mache, sind die Straßen wieder einsam und leer. So ist’s recht!
Fazit
Der Tag im Ammergebirge war der absolute Wahnsinn: wahnsinnig anstrengend, aber auch wahnsinnig schön. Der Bergurlaub im Spätsommer war natürlich großartig, aber diese Tour ist mein persönlicher Saisonhöhepunkt im Jahr 2020 gewesen!
Tourendatum: 14. November 2020
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